Grundlinien
des Evangelischen Verständnisses
von Ehe und Trauung
4. Neuere gesellschaftliche Entwicklungen
Betrachtet man den Zeitraum ab 1945, so lassen sich im Blick auf Ehe und Eheschließung gesellschaftliche Entwicklungen nachzeichnen, die für die kirchliche Trauung von Bedeutung sind.
Andere Strukturierung des Lebenszyklus
Traditionell bedeutete eine Heirat den Auszug aus dem Elternhaus, die Gründung eines eigenen Hausstandes und den Eintritt in wirtschaftliche Selbstständigkeit. Ebenso waren Eheschließung und das Eingehen einer sexuellen Gemeinschaft selbstverständlich miteinander verbunden. Die Hochzeit war damit ein Schwellenritual, das den Übergang von einem klar definierten Familienstand in einen anderen begleitete. Heutzutage geschehen der Beginn einer sexuellen Beziehung, der Start in den Beruf und das Zusammenziehen mit einer Partnerin oder einem Partner meist unabhängig voneinander und ohne rituelle Gestaltung. Man kann davon ausgehen, dass es sich dabei um einen irreversiblen Prozess handelt. Auf traditionellen Vorstellungen von Ehe – meist mit deutlich patriarchalischem Hintergrund – zu beharren, ist deshalb pastoral nicht hilfreich und angesichts des biblischen Befundes auch theologisch nicht angemessen.
Wenn der Lebenszyklus des Menschen heute anders strukturiert ist, dann hat das auch Konsequenzen für das liturgische Nachdenken: In der aktuellen Kasualtheorie wird die kirchliche Trauung deshalb nicht mehr primär als „rite de passage“, sondern stärker als „rite de confirmation“ im Modus eines „rite de passage“ gedeutet: An die Stelle des realen Schwellenübergangs tritt der inszenierte Schwellenübergang, der zur Erfahrung und zur Darstellung bringt, was sich im Leben des Paares allmählich als Übergang vollzogen hat.
Der gesellschaftliche Prozess der Individualisierung hat auch das Beziehungsleben ergriffen. Menschen können wählen, ob und wann sie eine Ehe eingehen. Zugleich gilt aber auch: Sie müssen aus verschiedenen Lebensformen die ihnen gemäße wählen. Sie sind damit ständig herausgefordert, in der Vielfalt der Lebensmöglichkeiten die eigene Identität zu bewahren beziehungsweise zu entwickeln. Dieser Notwendigkeit, eine eigene Identität zu entwickeln, und der damit verbundenen Verunsicherung begegnet die Kasualie der Trauung.
Vielfalt der partnerschaftlichen Lebensformen
Eine wachsende Zahl von Menschen lebt vorübergehend oder dauerhaft in nichtehelichen Lebensformen. Am weitesten verbreitet dürfte die nichteheliche Partnerschaft sein. Daneben gibt es auch das „Living-apart-together“, das heißt, Menschen leben in einer festen Beziehung, aber an unterschiedlichen Orten – entweder weil sie durch ihre berufliche Situation dazu gezwungen sind oder weil sie die Konflikte des alltäglichen Zusammenlebens vermeiden wollen.
Hinsichtlich der nichtehelichen Partnerschaften kann man unterscheiden: Jüngere Menschen ziehen oftmals zusammen, um auszuprobieren, ob ihr Miteinander im gemeinsamen Alltag Bestand hat. Für viele von ihnen ist eine spätere Hochzeit nicht ausgeschlossen. Ältere Menschen hingegen heiraten oft deshalb nicht, weil aus einer früheren Ehe Versorgungsansprüche bestehen, die mit einer erneuten Eheschließung verloren gehen würden. Oder sie verzichten auf eine Wiederverheiratung aus Rücksicht auf Kinder aus erster Ehe. Geschiedene ziehen die nichteheliche Lebensgemeinschaft unter Umständen auch deshalb vor, weil sie vor der Ehe als einer Lebensform zurückscheuen, in der sie bereits einmal gescheitert sind
Homosexuellen Menschen steht seit dem 1. August 2001 die Möglichkeit offen, eine „eingetragene Lebenspartnerschaft“ einzugehen. Der Gesetzgeber gesteht ihnen damit eine Anzahl von Rechten zu, die Ehepaare haben.
Gewandeltes Eheverständnis
Das Durchschnittsalter, in dem Ehen geschlossen werden, ist gestiegen. Das hat mehrere Gründe: Nach einer qualifizierten Ausbildung wollen Männer und Frauen erst einmal Berufserfahrungen sammeln. Andere Lebensformen neben der Ehe sind weitgehend akzeptiert. Vor allem aber hat sich das Verständnis von Ehe gewandelt. Sie gilt primär nicht mehr als Schutzraum für die Partnerschaft, sondern als Schutzraum für die Familie. Dementsprechend heiraten viele Paare erst, wenn sie sich ein Kind wünschen oder bereits bekommen haben. Damit geht einher, dass die Zahl der Traugottesdienste mit Taufen steigt.
Die Zahl der Eheschließungen ist seit Mitte der 60er Jahre kontinuierlich gesunken. Eine Ursache dafür ist das veränderte Eheverständnis. Wenn die Ehe primär als Schutzraum für Kinder angesehen wird, dann besteht für Paare, die keine Kinder bekommen möchten, weniger Grund zu heiraten. Die Ursache liegt somit nicht in einer prinzipiellen Ablehnung der Ehe, sondern in einem veränderten Verständnis von der Funktion der Ehe.
Phasen der Ehe und ihre spezifischen Gefährdungen
Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten dauern Ehen, die nicht geschieden werden, sehr viel länger. Dabei lassen sich deutlicher als damals verschiedene Phasen unterscheiden: das Zusammenleben mit Kindern, die Zeit davor und die Zeit, nachdem die Kinder aus dem Haus gegangen sind. In der Zeit vor der Familiengründung leben viele Männer und Frauen bereits in einer festen Partnerschaft zusammen, aber noch nicht als Verheiratete. Das Zusammenleben mit Kindern stellt für viele Ehepaare auch eine Belastung dar: Mutter bzw. Vater zu werden verändert die Menschen. Hinzu kommen neue Konfliktthemen wie die Kindererziehung oder der Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Geld. Auch der Übergang in die Zeit nach der Familienphase stellt sich häufig als krisenanfällig dar. Ein Ehepaar kann sich im Laufe des familiären Alltags auseinander gelebt haben, dann müssen Gemeinsamkeiten erst wieder entdeckt und entwickelt werden. Eine gottesdienstliche Feier anlässlich eines Ehejubiläums kann in einer solchen Situation eine wichtige stabilisierende Funktion haben.
Die Erfahrung der Brüchigkeit von Ehen
Die Häufigkeit von Ehescheidungen nimmt zu. Auch hier sind die Ursachen vielfältig. Neben gewachsener wirtschaftlicher Unabhängigkeit der Partner spielen Veränderungen in der Arbeitswelt eine erhebliche Rolle. Auf der einen Seite erfahren Beziehungen hohe Belastungen, wenn einer der Partner arbeitslos wird. Auf der anderen Seite wird heute eine hohe berufliche Flexibilität und Mobilität gefordert. Das erschwert die Organisation des Privatlebens und reduziert die Zeit, die die Partner für sich haben. Neben derartigen sozialen Veränderungen sind psychologische Ursachen auszumachen: Es herrscht ein hoher Anspruch an eine emotional befriedigende Gemeinschaft in der Ehe, der leicht zu enttäuschen ist und dann zur Trennung führt. Insbesondere die Erfahrung von nicht erfüllender Sexualität steht im Hintergrund von tiefen Beziehungskrisen.
Inanspruchnahme kirchlicher Trauungen
In den letzten dreißig Jahren ist ein Rückgang evangelischer Trauungen festzustellen, der mit mehreren Faktoren zusammenhängt: Die Ehe wird zumeist in einem Alter geschlossen, in dem die Distanz zur Kirche besonders groß ist. Zudem wächst die Zahl derer, die keiner christlichen Kirche angehören. Außerdem ist die kirchliche Trauung eine Kasualie, zu der es ein analoges weltliches Ritual gibt. Diese Doppelung lässt manche auf die kirchliche Trauung verzichten.
Mit diesen Beobachtungen ist auch ein Aspekt verbunden, der besondere Aufmerksamkeit verdient: Vor allem in Regionen mit geringen Trauzahlen – wie in Großstädten und weiten Teilen Ostdeutschlands – ist zunehmend mit einer spezifisch christlichen Motivation zu rechnen, wenn ein Brautpaar sich einen Traugottesdienst wünscht. Davon ist selbst dann auszugehen, wenn diese Motivation nicht artikuliert wird.
Außerdem ist der Trend, auf eine kirchliche Trauung zu verzichten, nicht unumkehrbar. Gerade die bewusste Gestaltung des Traugottesdienstes als „rite de confirmation“ eröffnet große Chancen, die evangelische Trauung attraktiv zu machen.