Grundlinien
des Evangelischen Verständnisses
von Ehe und Trauung

5. Die Aufgabe kirchlichen Handelns

In der Liturgie des Traugottesdienstes sind Elemente einer Eheschließung (Traufragen, Ringübergabe usw.) mit dem Element der Segnung verbunden. In unterschiedlichen Zeiten wurde eher das eine oder das andere betont. Der vorliegende Agendenentwurf akzentuiert beides in gleicher Weise, ja man kann gegenüber manchen Intentionen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutlichere Herausstellung der sogenannten eheschließenden Elemente feststellen.

Angesichts der veränderten Strukturierung des Lebenszyklus und der in der Regel erheblich größer gewordenen zeitlichen Spanne zwischen standesamtlicher Eheschließung und kirchlicher Trauung könnte man vermuten, dass die Bedeutung des Traugottesdienstes als Schwellenritual mit kopulativen Elementen hinfällig geworden ist. In der Tat mag – neben einer allgemeinen Kirchendistanz – auch hierin eine Ursache für den Rückgang der kirchlichen Trauungen in den letzten Jahren zu sehen sein. Erstaunlich ist deshalb nicht der Rückgang der Anzahl der Traugottesdienste, sondern die weitere Nachfrage nach kirchlichen Traugottesdiensten mit Elementen eines Schwellenrituals. Angebote von Ritendesignern und zahlreiche Fernsehsendungen belegen eindrücklich, dass die genannten soziokulturellen Entwicklungen sogar zu einem neuen Bedarf nach Ritualen im Zusammenhang der Eheschließung geführt haben.

Wenn der Traugottesdienst auch keine Schwelle im Lebenslauf mehr markiert, so kann er doch den biografischen Schritt über die Schwelle in ausgezeichneter Weise öffentlich nachholen und damit ausdrücklich machen. Hierfür wird er von den Betroffenen „genutzt“ und gebraucht! Weil öffentlich nachgeholt und dargestellt werden soll, was geworden ist, wird alles wichtig, was der Vergegenwärtigung der getroffenen Entscheidung dient. Gerade die Schwellenlosigkeit des Beginns einer verbindlichen Partnerschaft kann das Bedürfnis nach einer feierlichen Handlung wecken, in der der Anfang inszeniert wird und man sich der Verbindlichkeit der Partnerschaft vergewissert.

Die Agende hält darum mit guten, letztlich seelsorglichen Gründen an eheschließenden Formen wie Ringwechsel, Händereichen und Trauvotum fest und verbindet sie mit der Segnung der Eheleute sowie der Herausstellung der Verbindlichkeit der Ehe durch die Traulesungen. Die Agende befürwortet insofern Gottesdienste, die – je nach Situation – in unterschiedlicher Deutlichkeit eheschließende Momente enthalten. Damit entspricht sie der Tradition und berücksichtigt vor allem auch die Erwartung vieler Eheleute an ihre Trauung.

Andererseits könnte sich aus der gesellschaftlichen Situation auch die Nachfrage nach einer betont schlichten Form ergeben. Eine solche Gottesdienstform ist so etwas Ähnliches wie der Gottesdienst zum Ehejubiläum: ein andachtsähnlicher Gottesdienst mit Eröffnung, Verkündigung, Gebet und Segen. Paare, die schon viele Jahre zusammenleben und auch schon längere Zeit verheiratet sind, mögen einen Traugottesdienst in Weiß als unpassend empfinden, wünschen sich aber durchaus einen Traugottesdienst. Der Weg zu einer solchen einfachen Form könnte durch Martin Luthers Traubüchlein gewiesen sein, wenn man darin die Handlung vor der Kirchentür, die inzwischen auf dem Standesamt stattfindet, von der Handlung in der Kirche entkoppelt. Die Traulesungen fungieren bei Luther sozusagen als Predigt, die Gebot, Gefährdung und Geschenk des ehelichen Lebens thematisieren. Auf diese Weise kann man der Entwicklung zu einer neuen, nicht mehr an die klassischen Wendepunkte des Lebens gebundenen und dennoch biografiebestimmten Gestalt rituellen Verhaltens begegnen.

Hinter jedem Fest steht auch das Bedürfnis nach lebensgeschichtlicher Vergewisserung. Wenn Brautpaare auf die Begründung ihres Wunsches nach einem Traugottesdienst sagen, in der Kirche sei es einfach feierlicher, so drückt dies ein Gespür für das Gewicht ihrer Eheschließung aus. Und je gewichtiger Entscheidungen sind, desto größer ist die Unsicherheit, ob die Entscheidungen auf Dauer Bestand haben und auch in Zukunft zu einem gelingenden Leben beitragen. Als rituelle Darstellung eines Übergangs hat der Traugottesdienst deshalb faktisch die Funktion eines „rite de confirmation“. Er dient der Vergewisserung der Lebensentscheidung des Paares.

Der Traugottesdienst enthält in verdichteter Form Elemente, die für die Betroffenen wiederholen, erinnern und bewusst machen, was sich in den Biografien real schon ereignet und faktisch verändert hat. Der Lebenslauf ist auf Momente solcher verdichteter Erinnerungen angewiesen. Der Traugottesdienst hat in diesem Sinne eine anamnetische Funktion.

Die Hinwendung zu Gott, mit der der Gottesdienst beginnt, eröffnet einen die alltägliche Wahrnehmung transzendierenden Horizont. Dem Paar – und mit ihm allen im Gottesdienst Anwesenden – begegnen Sinnaussagen über die Ehe und das eigene Zusammenleben, die die eigene Entscheidung in einen größeren Zusammenhang stellen. In der Liturgie des Traugottesdienstes, die das christliche Eheverständnis zur Darstellung bringt, erfährt das Paar seinen Weg begleitet vom Willen und der Verheißung Gottes. Es bekennt sich dazu und dabei auch zueinander. Dadurch wird der Lebensgeschichte ausdrücklich die Zufälligkeit genommen. Sie wird in eine Verbindlichkeit gestellt, der der Segen Gottes gilt. Auch allen im Gottesdienst Anwesenden, die in unterschiedlicher Weise mit dem Paar und seiner Entscheidung verbunden sind, wird dies durch das rituelle Geschehen vermittelt. Ihre Freude bekommt einen tieferen Sinn und ihre Sorge kann sich aussprechen und Gott anvertrauen. Die Traugemeinde kommt aus ihrem Alltag in die Kirche und geht gewisser geworden wieder in ihren Alltag zurück.

Liturginnen und Liturgen tun gut daran, sich dieser rituellen Funktion des Traugottesdienstes bewusst zu sein und sie durch die liturgische Gestaltung zur Lebensorientierung zu nutzen. Das rituelle Geschehen steht nicht im Gegensatz zur evangelischen Verkündigung, sondern ist eine Form, in der das Evangelium sich vollziehen kann und muss. In der Liturgie des Traugottesdienstes verschränken sich daher immer auch die Zeiten. Wird im Eingangsteil – besonders im Eingangsgebet – Vergangenes vergegenwärtigt, so wird durch das Trauversprechen und den Segen Gegenwärtiges in seiner Verbindlichkeit für die Zukunft dargestellt, bekannt und erfahren.

Im Traugottesdienst erlebt das Paar die Fürbitte der Gemeinde hinter sich und den Segen Gottes vor sich. Es lässt sich seinen Schritt in die Ehe vom Wort Gottes her deuten und mit einer Perspektive versehen. Es erfährt den Zuspruch der Güte und der Treue Gottes, die das gemeinsame Leben in allen Bereichen umfasst. Es kann in Erinnerung an das eigene Getauftsein um den Segen für den weiteren Weg bitten und hört, dass Freunde und Verwandte in ihrer Fürsorge dieses Gebet teilen. Es vernimmt, dass die eigene Entscheidung für die anwesende Gemeinde auch Grund zum Lob ist und bekommt Gottes Segen für seine Ehe zugesprochen.